"Die Regierung ist verrückt und lügt immer"
Bericht eines internationalen Beobachters der Irischen Mexico-Gruppe zum Konflikt aus Diez de Abril, Chiapas von Ende Juni 98
"Wie sehen Deine Hände aus?" Zum vierten Mal hielt ich sie zur Überprüfung hin. "Gut, heute sind es nur zwei Blasen", lachte ich. In Wahrheit waren meine Hände gar nicht das Problem, mein Rücken, die Arme und die Schultern waren da eine ganz andere Geschichte. Es war mein zweiter Tag in Diez de Abril. Gerade hatte ich ein sechsstündiges Arbeitspensum im Maisfeld abgearbeitet, und nun fühlte ich mich, als müsse ich sterben. Noch immer hatte ich ein flaues Gefühl vom Vortag im Magen. Vier Stunden nach meiner Ankunft im Dorf waren die beiden Friedenscamper, die ich abgelöst hatte, von Armee und Polizei festgenommen worden, als sie in den Büschen am Rand der Hauptstraße versteckt auf den Bus warteten. Im Dorf wird daraufhin mobilisiert. Es ist möglich, daß die Armee das als Vorwand benutzt, um wieder in Diez einzufallen. Alle sind sehr ruhig. Wir verbleibenden Friedenscamper werden zu einer vorbereiteten Stelle gebracht, wo wir sehen können, aber nicht gesehen werden. Nach zwei Stunden erhalten wir die Entwarnung. Die beiden Friedenscamper wurden nach einem Verhör freigelassen.
Die ausländerfeindliche Kampagne der Regierung ist jetzt in vollem Gange. Sie will keine Ausländer in Chiapas haben, wodurch unsere Anwesenheit nur noch wichtiger wird. Sie will nicht, daß Dinge an die Öffentlichkeit dringen oder sich jemand für das, was in Chiapas geschieht, interessiert. Neue "Gesetze" verbieten Ausländern, sich in der Konfliktzone aufzuhalten, aber wie alle ungerechten Gesetze werden auch diese gebrochen. Die Stärke und die Fähigkeit des Dorfes, in gespannten Situationen gemeinsam zu handeln, beeindruckt mich. Das werde ich in den folgenden drei Wochen noch oft erleben, da die Anspannung in ganz Chiapas steigt. Später am Abend wird mir vom letzten Einfall der Armee in Diez erzählt. "Sie stahlen unsere Arbeitsmittel, zerstörten unsere Häuser und verletzten einige der Frauen mit dem Gas", sagt Juan. "Den Großteil des Schadens
haben wir inzwischen behoben. Sie werden nicht gewinnen", fügt er mit einem Lächeln hinzu.
Die andauernde Bedrohung und Einschüchterung von Seiten der Armee ist nicht das einzige, was im Moment Sorge bereitet. El Niño hat in Chiapas verheerende Auswirkungen hinterlassen. Tausende Brände wüten in den Bergen, und der Rauch, der einen im Tal nicht weiter als 20 Meter blicken
läßt, verdunkelt die Abendsonne. Das Gerücht geht um, daß die Armee einige der Feuer gelegt hat. Es fällt mir nicht schwer, das zu glauben. Die Regierung hat die Region zum Naturkatastrophengebiet erklärt. Aber wo ist Hilfe? Später am Abend besucht uns Ana. Wie viele andere im Dorf hat sie schlimmen Husten vom Rauch bekommen. Aber das hält sie nicht davon ab, mir das "Frauenlied" vorzusingen.
Wegen der Trockenheit müssen die Dorfbewohner noch einmal Chillies, Bohnenund Kürbisse pflanzen, da die erste Ernte vertrocknet ist. Zwar hat es inzwischen geregnet, aber die Leute glauben, es war zu wenig und kam zu spät. Der Ungerechtigkeit und den Härten des Lebens setzt man im Dorf
Humor entgegen. Wir sprechen über da neue Wandbild. "Subcomandante Marcos hat kein Gewehr!" sagt José. Das ist Gegenstand vieler Diskussionen und einiger Besorgnis in Diez. Der Sup hat seine Pfeife, die Balaclava, ein rotes Tuch und Patronengurte, aber keine Waffe! Wir versprechen, das Bild am Sonntag fertigzustellen.
Am nächsten Morgen halb acht bin ich mit José und Olivia auf dem Weg zu den Maisfeldern, als bereits der zweite Helikopter tief über unsere Köpfe hinwegfliegt. Ich bin die einzige, die nach oben blickt. José und Olivia arbeiten fünfmal so schnell wie ich. Sie lachen über mein Unvermögen, mit der Hacke umzugehen. "Hier, neben mir", ruft Olivia lachend. Ich blicke auf und merke, daß ich natürlich wieder im Zickzack gearbeitet habe. Gegen elf setzen wir uns, trinken Posol und reden. José erzählt mir, daß für die Regierung das Leben der Indígenas nichts bedeutet. "Sie betrachten uns als Tiere und glauben, daß wir Tiernahrung essen." "Aber die Regierung ist verrückt und lügt immer", antworte ich. Dieser Kommentar bringt die beiden zum Lachen. Wir arbeiten weiter. Nicht zum ersten Mal befällt mich ein Gefühl der Demut. Ich bin froh, mit diesen Menschen reden, zusammensein zu dürfen. Olivia erzählt mir stolz von der Geschichte des Dorfes und von ihrer Familie. "Vor der Zapatista-Bewegung haben viele von uns für große Landbesitzer gearbeitet. Wir waren arm, hatten kein Land, einige aus meiner Familie starben an Hunger. Jetzt haben wir Land, und wir haben die Kontrolle über unser eigenes Leben. Wir können unsere eigenen Entscheidungen treffen."
Die Hubschrauber setzen ihre Tiefflüge fort. Nach zwei Wochen habe ich mich sowohl an die Arbeit als auch an die täglichen Spielchen der mexikanischen Armee gewöhnt. Nur zu oft gibt es angespannte Situationen, aber die Bewohner von Diez lassen sich nicht einschüchtern. Dreimal wird die Alarmstufe rot einberufen, als man die Nachricht verstärkter Truppenbewegung in der Gegend erhält. Am 10. Juni dann erfahren wir von der Schießerei in El Bosque. Die Armee hat Zapatistas festgenommen und sie beschuldigt, PRI-Anhänger getötet zu haben, und der Autonome Verwaltungsbezirk San Juan de la Libertad wurde aufgelöst. Diesmal kam es zu einem Schußwechsel, und acht Zapatistas verloren ihr Leben, ebenso ein Polizist. Im Fernsehen werden Bilder gezeigt. An diesem Abend treffen sich alle in der Kirche. Heute sind Wut und Ärger deutlich spürbar. Das Treffen endet mit der Entscheidung, die Dorfgemeinschaft in drei Gruppen aufzuteilen, die am nächsten Tag gemeinschaftliche Arbeiten verrichten werden. Die Gemeinschaft muß zusammensein. Ich verlasse das Dorf, als gerade wieder höchste Alarmstufe herrscht. Der Abschied fällt schwer.
Zurück in San Cristóbal treffe ich mich mit einem Journalisten auf einen Kaffee. Er ist gerade aus San Juan de la Libertad zurückgekommen und muß mit jemandem über die Übelkeit, die ihm im Magen sitzt, reden. Er war dabei, als einige Leichen in das Dorf zurückgebracht wurden. Von ihm erfahre ich, daß die Armee am 10. Juni drei Leute erschossen hat. Fünf andere, die verletzt waren, wurden verhaftet. Und vier Tage später brachte man acht Leichen mit einem LKW zurück. Sie waren so verstümmelt, daß sie von ihren Lieben nicht mehr erkannt werden konnten. Zwanzig Leute werden noch vermißt. Der Journalist, der schon oft von Kriegen berichtet hat, erzählt mir, daß die Soldaten die Leichen vom Lkw warfen, als seien sie ein Stück Fleisch. Mir fällt wieder ein, was mir José drei Wochen zuvor auf dem Maisfeld erzählt hatte. "Der Regierung bedeutet das Leben der Indígenas nichts."
Und noch ein weiteres Zitat fällt mir ein, diesmal vom Sup. "Wir wollen einen gerechten Frieden, Respekt und Würde. Wir werden nicht länger auf unseren Knien leben."
Quelle: A-Infos
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